Umwege erhöhen die Ortskenntnis

„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segelt, für den ist kein Wind der richtige.“ Mit diesen gewichtigen Worten (und ebenso wichtiger Miene!) versuchte mir vor vielen Jahren ein Trainer bei einem Versicherungsseminar klar zu machen, wie überlebensnotwendig es ist, immer ein Ziel vor Augen zu haben und auch auf direktem Wege darauf zuzusteuern. Dankbar, eine Strategie für all das Chaos zu haben, dass unser Leben für uns alle so bereit hält, verinnerlichte ich mir seine Worte und versuchte, das Konzept anzuwenden, wo es nur ging – erst den „Hafen“ definieren, dann auf den richtigen Wind warten, lossegeln, und BINGO. Preparation meets opportunity. Ganz einfach. Ich wurde die ungekrönte Königin der „To do“-Listen, legte kurz-, mittel- und langfristige Ziele fest, verbiss mich wie ein Pitbull in deren Verfolgung und Realisierung und hatte nicht nur einen „Plan A“, sondern auch immer „Plan B“ und „C“ vorzuweisen. War der Weg, an dieses eine bestimmte Ziel zu kommen, einmal festgelegt, stiefelte ich einfach drauflos, meinen „Plan A“ wie eine Landkarte fest in der Hand, guckte nicht nach rechts und links und ging irgendwie in freudiger Naivität davon aus, dass dieser von mir gewählte Weg auch geradewegs genau dorthin führen würde, wo ich die Erfüllung all meiner Wünsche sah. Klang ja auch nach einem einleuchtenden Konzept, warum sollte es also nicht funktionieren? Tatsache ist, es funktionierte NICHT. Funktionierte NIE. Wie denn auch? Natürlich ist es richtig, sein Ziel zu definieren – ohne Ziele würden wir auf dieser Welt herumirren wie eine Herde verlorener Schafe, jeglichen Ansporn verlieren, uns selbst und unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln, und letzten Endes irgendeinem Leithammel hinterherblöken, der uns direkt ins Verderben führt. Was in meinem Plan jedoch nicht aufgehen KONNTE, das war meine Herangehensweise – hatte ich doch VÖLLIG vergessen mit einzukalkulieren, dass Wege nun mal nicht immer gerade SIND. Oder eben. Oder asphaltiert. All das Bergauf und Bergab, die vielen Kurven, Hindernisse…sie waren auf meinen so schön gezeichneten Karten nicht zu finden, genau so wenig wie all die Umleitungen, Abzweigungen, Irrwege, Umwege, Abwege. Ich fand mich also immer wieder auf dem buchstäblichen Holzweg wieder, und jedes Mal, wenn mich das Leben an eine dieser Abzweigungen führte, mich vor eine Entscheidung stellte, die so nicht mit im Skript stand, dann rannte ich entweder ohne Nachzudenken blindlings drauflos, oder ich machte ganz einfach kehrt, marschierte zurück und gab auf, meist, ohne „Plan B“ oder „C“ noch eine Chance zu geben. Kein Wunder, dass regelmäßige Enttäuschungen vorprogrammiert waren, und da ich mein tolles System ja auf alle Bereiche anwandte, sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich. Klappte etwas nicht, wurde es einfach hingeschmissen. Wurde ein neues Ziel festgesetzt, eine neue Landkarte gezeichnet, ein neuer Weg beschritten. Im Laufe dieser letzten 31 Jahre sind auf diese Weise eine ganze Menge ziemlich kurzer Wegabschnitte zusammengekommen, einige von ihnen habe ich bereits mehrmals beschritten (KÖNNTE beim zweiten, dritten, vierten…Versuch ja DOCH noch funktionieren!!!).

Ich kann nicht sagen, was genau der Auslöser war, als ich vor einiger Zeit auf einmal feststellte: das KANN so gar nicht gehen, und es SOLL so auch nicht gehen. Was habe ich davon, immer mit klarer Definition durchs Leben zu rennen, immer etwas unbedingt haben oder erreichen zu wollen, mir selbst auch nie eine Pause zu gönnen…und vor allem überhaupt nicht mehr mitzubekommen, was da an Schönheit rechts und links des Weges liegt? Nicht zu sehen, wer noch so unterwegs ist auf all den kurvenreichen Pfaden? Auf einmal war es irgendwie ganz einfach, regelrecht ERLEICHTERND, loszulassen – und mich einzulassen auf etwas völlig Neues, auf einen Weg, der nicht zwangsläufig irgendwo hinführen muss, aber der einfach schön ist, abwechslungsreich und interessant. Natürlich ist es nicht so einfach, alte Gewohnheiten von heute auf morgen abzuschütteln – so habe ich nach meinen ersten, unsicheren Schritten klammheimlich DOCH so etwas wie einen Plan entworfen, um wenigstens UNGEFÄHR zu wissen, in welche Richtung es gerade geht…und bin unweigerlich darüber gestolpert. Wenn man sich auf eine neue Lebenseinstellung einlässt, dann muss man es aus ganzem Herzen tun und den „Plan B“ ganz schnell vergessen…und die Unsicherheit und Ungewissheit, die man als Preis für diese neue Freiheit zahlt, ganz einfach auszuhalten lernen. Mein Straucheln führte mich dann erstmal zu einer ziemlich weiten Umleitung, und mehr als einmal habe ich darüber nachgedacht, es so wie früher zu machen und einfach wieder umzudrehen…aber irgendwann fand ich mich dann zu meiner größten Überraschung DOCH auf dem ursprünglichen Hauptweg wieder, und seitdem lasse ich mich auch gern auf diese kleinen Abwege ein – bin ich doch viel zu neugierig geworden, herauszufinden, wer oder was sich hinter der nächsten Biegung verbergen mag!

Und bin ich damals meist allein und mit Scheuklappen unterwegs gewesen, finde ich es heute überwältigend schön, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und auf diesen neuen Pfaden immer wieder Menschen zu treffen, die aus den gleichen Gründen diesen (Lebens-) Weg gewählt haben. Vielleicht haben wir nicht immer dasselbe Ziel, vielleicht werden wir diesen Weg nicht gemeinsam bis zum Ende gehen…aber auf jeden Fall für eine gewisse Zeit zusammen in die gleiche Richtung. Und wenn ich mal wieder in meinen alten Trott zurückfalle, dann bin ich glücklich, wenn mich mein Weggefährte an die Hand nimmt, zum Stehen bringt und sagt: „Jetzt dreh’ dich doch mal um, guck mal, wie schön es hier ist!“

Das sind diese kostbaren Momente, die mir zeigen: jawoll, der Weg ist das Ziel…und Umwege erhöhen die Ortskenntnis 🙂

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2 Antworten zu Umwege erhöhen die Ortskenntnis

  1. freuleinfridur schreibt:

    Die Herzbluttischlerin sieht über den fauxpas mit der „Holzweg“phrase hinweg und gratuliert zu einem viel entspannteren und vollerem Leben!
    Frage mich eh, was der Hafenunsinn soll. Schiffe sind zum Segeln da und nicht, um in einem drögen Hafen vor Anker zu liegen… Vive la liberté! …und jetzt auf, hinaus auf die hohe See! 😀
    Gratulation zu einem entspannten und fließendem Leben. So soll das sein 🙂

  2. skippyamrhein schreibt:

    …das ist eine wunderschöne Formulierung, „Schiffe sind zum Segeln da und nicht, um in einem drögen Hafen vor Anker zu liegen“, trifft’s genau und gefällt mir total gut! Mich hat es allerdings einiges an Mut gekostet, „in hohe See zu stechen“, tut es noch…aber es ist gleichzeitig auch unheimlich bereichernd und spannend. Und ich bin überzeugt, auch der berüchtigte „Holzweg“ kann manchmal ganz lehrreich sein, vielleicht sogar inspirierend…und das nicht nur für Herzbluttischlerinnen 😉

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