Wann immer mich eine Nachricht aus dem Urlaubsdomizil des Herzensmanns erreicht, möchte ich ihm so viel sagen, möchte all das in eine kurze WhatsApp-Notiz packen, was mir den ganzen Tag über so durch den Kopf gegangen ist, was mich vielleicht nachts nichts hat schlafen lassen … Und dann starre ich auf das grüne Leuchten meines Handys, meine Kehle ist wie zugeschnürt und meine Finger sind ganz starr, und alles, was ich zuwege bringe, sind ein paar flapsige Kommentare zu den Fotos, die er mir schickt, um nicht in Tränen auszubrechen und ihm das Herz nicht auch noch unnötig schwer zu machen, und dann tippe ich irgendwelche komischen Symbole ein und applaudiere einem Kaktus und weiß nicht einmal, wieso 😉
Ähnlich geht es mir gerade hier … Es gibt so viel, das ich mir von der Seele schreiben möchte und muss, aber ich bekomme es weder vorskizziert noch sonst irgendwie vernünftig geordnet, deswegen lasse ich meinen Gedanken jetzt einfach freien Lauf und vertraue darauf, dass sich mein Schwadronieren zu guter Letzt sinnvoll zusammenfügt; so, wie ich auch ganz genau weiß, dass mein liebster Seelengefährte zwischen den Zeilen meiner konfusen Nachrichten liest und versteht, was ich meine.
Obwohl ich reichlich Übung im Vermissen habe, kenne ich mich so nicht – ziellos durch die Wohnung wandernd, sein Schnuppershirt mit mir herumschleppend wie ein Kuscheldeckchen, das mir keiner wegnehmen und waschen darf; nachts bei Wein in der Küche sitzend und über alten Liebesbriefen schmachtend, schließlich doch irgendwann zum Klang seiner Stimme auf einem einst eigens für mich aufgenommenen Hörbuch einschlafend; all das begleitet vom Soundtrack scheinbar unendlicher Playlists gemeinsamer Songs, die sich im Laufe unseres Weges so angesammelt haben. Vermutlich war ich einfach zu lang allein und habe mich in diesem Alleinsein auch irgendwann ZU unerschütterlich gefühlt, dass diese kurze Trennung auf Zeit mich jetzt so aufzuwühlen vermag … Vielleicht gibt es aber tatsächlich so etwas wie ein „Vermissen für Fortgeschrittene“, denn wir hatten ja all das schon einmal, ein unbegreifliches und doch recht amüsantes Déjà vu, das mir mit einem frechen Augenzwinkern offenbart, nein, auch DU bist nicht gefeit gegen die Liebe, ganz gleich, wie nett und ruhig du dich jetzt eingerichtet haben magst in deinem Leben … Diese Ruhe hat getrogen, denn du siehst erst jetzt, was du brauchst, um überhaupt komplett zu sein.
Gäbe es für das Vermissen so etwas wie einen Europäischen Referenzrahmen, würde ich sagen, wir haben uns gerade auf das „Advanced-Level“ hochgeschwungen, definitiv ein B2+ … Und das sicher nicht im Rahmen eines Crash-Kurses, sondern verdient erarbeitet über einen Zeitraum, der sich im Rückblick anfühlt wie ein ganzes, in sich rundes Leben.
Da gibt es das Vermissen, wenn man sich gerade erst kennen gelernt hat und der auf den ersten Blick als Seelengefährte Erkannte bereits Kletterseil und Eispickel im Kofferraum spazieren fährt, um direkt nach der Begegnung zehn Tage lang schwindelnde Höhen zu erklimmen, und das selbstverständlich in einer Ära VOR Smartphone und WhatsApp … Man darbt zuhause, malt sich schreckliche Abstürze auf der Pirsch nach Almrausch und Edelweiß aus, isst nicht, schläft nicht, konzentriert sich keinen Deut und ist abwechselnd davon überzeugt, nie wieder ein Wort von ihm zu hören (weil er es sich in den Bergen wieder anders überlegt hat), respektive ihm nach seiner Rückkehr unverzüglich die ewige Treue zu schwören. Diese Sehnsucht nach dem Unbekannten, diese Ahnung von etwas, das um die nächste Ecke auf einen warten könnte, dieses Hoffen und Harren und Bangen, das ist wie ein Grundkurs im Vermissen, ein „Beginner-Level“, das Sehnen nach dem noch Unbekannten. Es wühlt einen auf, es lässt einen vor Herzeweh verzweifeln, und doch ist es von köstlicher Süße, da noch kein bitterer Tropfen das unschuldige Träumen vergiftet hat, da noch keine schnöde Realität die schönen Phantasien überholt hat und kein Zwist dieses Wunder der Liebe entmystifiziert. Noch liegt alles vor einem, das Kennenlernen, Erkunden, Herausfinden, gemeinsam Erobern, Genießen und Davonfliegen, aber auch die ersten Enttäuschungen, Kompromisse, Missverständnisse.
Wird man von diesen erst einmal auf die Probe gestellt, kommt es schnell zu einem kleinen Extra-Workshop, was das sich-Vermissen angeht – auch wir waren nicht vor dieser Lektion gefeit und hatten nach dem ersten Jahr des Zusammenseins eine Auszeit von drei Wochen, die uns recht schnell in Richtung Level „Intermediate“ katapultierte, da wir ja nun recht genau wussten, was und wen wir da gerade vermissten und vor allem, was wir da gerade aufs Spiel setzten … Ich erinnere mich an diese drei Wochen an eine entsetzliche Zeit der Kälte und Starre, in der mein Verstand sich vehement weigerte, zu akzeptieren, dass der Herzensmann vielleicht nicht länger Teil meines Lebens sein würde; an eine Zeit unvermittelter Tränenausbrüche an öffentlichen Orten und durchquatschter Nächte mit guten Freundinnen, die mir damals den Kopf über Wasser hielten und immer wieder Mut zusprachen. Ich habe selbst im Rückblick noch das Gefühl, es hätte sich hier um drei Monate gehandelt, so langsam sind diese schmerzhaften Stunden dahin gekrochen, bis wir uns dann beide endlich wieder ein Herz gefasst haben und den entscheidenden Schritt aufeinander zugegangen sind – mit dem Versprechen, es niemals wieder an diesen Punkt kommen zu lassen, ich meine, mit einem mittleren Vermissens-Niveau man ja auch schließlich zufrieden sein, nicht?
Nun, wir sind nur Menschen, und es ist uns nicht gelungen, diesen Schwur zu halten. Waren wir uns zu nah, waren wir in Wahrheit zu weit voneinander entfernt, war diese Seelenverwandtschaft zu stark, dass wir sie an diesem noch recht jungen Stadium im Leben schon hätten ertragen und TRAGEN können …? Ich weiß es nicht, nur, dass wir ein weiteres Jahr später vor den Scherben dieser Liebe standen und auseinander gingen, ohne uns noch einmal nacheinander umzudrehen. Es war kein langsames Scheiden, kein Ausschleichen, kein „oh, ich hab es kommen sehen“ … Es war ein letzter Vorhang, der fällt, ein Donnerschlag, und dann war alles dunkel. Wieder allein. Die Endgültigkeit dieses Gefühls war so immens, der Schock über den Verlust SO gewaltig, Vermissen war erstmal nicht möglich.
Er ging seiner Wege, ich ging meiner. Wir sammelten die Scherben auf und machten weiter, jeder für sich, knüpften an unser voriges Leben an, stellten uns neuen Herausforderungen, öffneten unsere Herzen einer neuen Liebe, wie erwachsene Menschen es eben so tun.
Und doch … Auch, wenn ich mir anfangs jeden Gedanken an ihn verbot, so flüsterte meine Seele in all den Jahren immer wieder seinen Namen, erst ganz leise und verhalten, dann immer lauter, und wenn ich es auch nie über mich gebracht hätte, ihn direkt zu kontaktieren, ich wusste dank der sozialen Medien immer, wo er sich aufhielt und dass es ihm gut ging, mehr konnte ich mir für ihn eigentlich nicht wünschen.
„Was du am meisten liebst, das lass gehen … Wenn es dir bestimmt ist, wird es von allein zu dir zurückkehren“, so heißt es in dem schönen Sprichwort, doch ich hatte mich eigentlich damit abgefunden, dass man seine Zwillingsseele nur einmal im Leben trifft und gemeinhin keine zweite Chance bekommt … Aber vielleicht hatten wir unsere Lektion im Vermissen ja tatsächlich abgeschlossen, denn irgendeine Himmelsmacht ließ uns durch einen unglaublichen Zufall wieder zusammenfinden. Älter, reifer, aber nicht einen Funken weniger verrückt, und ohne die Notwendigkeit großer Erklärungen, sofort wieder die altvertraute Einheit, nur mit deutlich intensiverem Gefühl; der Erkenntnis, ein unglaubliches Geschenk bekommen zu haben … Und mit einem längst geplanten Urlaub seinerseits, der unverzüglich angetreten werden wollte und uns nun definitiv das Prädikat „fortgeschritten“ aufetikettiert, *seufz*
Und wenn ich mir in einer dieser Nächte jetzt die alten Briefe durchlese, dann bleibe ich an Zitaten wie diesem hier hängen, spüre das selbe Sehnen wie damals im Herzen, fühle mich verstanden wie von keinem Menschen vor und nach ihm und stelle fest, dass ich in punkto Vermissen bitte nicht auch noch „Experten-Status“ erreichen muss:
„Du bist wie eine Blume, die an einer steilen Felswand wächst, bei kaltem Winterwind … Eine Blume, die sich nach Wärme sehnt, und sei es die Wärme einer rauen, manchmal ungeschickten Wandererhand.“
Und ich möchte diese raue, manchmal ungeschickte Wandererhand bitte nicht mehr loslassen.
Bildquellen: Francesco Hayez, „Der Kuss“, 1859
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