Das Schloss in den Wolken

castle_in_the_clouds_by_mad_computer_user-d4o967e-2Es war einmal ein Fischermädchen, das hörte auf den Namen Arma. Es lebte mit seiner Familie in einem kleinen Dorf am Rande eines Meeres und hatte nie etwas anderes gekannt als die stürmische See und den rauen Wind; hatte nie etwas anderes gesehen als das kleine Fischerdorf und die wettergegerbten Gesichter der Menschen, die dort lebten. Die Männer fuhren morgens hinaus aufs Wasser und kehrten abends mit ihren Netzen heim, die Frauen besorgten das Haus und hielten das Feuer in Gang. So ging es tagein, tagaus, ohne dass je etwas anders gewesen wäre. Niemand im Dorf beklagte sich über das einfache Leben, keiner war jemals weiter entfernt, als die kleinen Boote innerhalb eines Tages bewältigen konnten. Doch Arma konnte sich damit nicht begnügen, ihr Herz war voller Neugierde und Sehnsucht, und schon als kleines Mädchen hatte sie die Alten gefragt, was jenseits der Grenzen des Fischerdörfchens lag. Nie hatte sie eine Antwort bekommen, stets nur stummes Kopfschütteln und den Rat, mit dem zufrieden zu sein, was sie habe. Nun war Arma aber nicht nur neugierig, sondern sie konnte auch ziemlich störrisch sein, und es gab ein Geheimnis, das sie unbedingt ergründen wollte, und das war das Geheimnis der Klippe im Nebel. Die Klippe lag auf der anderen Seite der Bucht und ragte so hoch in den Himmel hinauf, dass es einem beim Hochschauen schwindelig werden konnte, und niemand hatte jemals ihre Spitze gesehen, da diese immer in undurchdringlichem Nebel verborgen lag. Die Männer mieden es, direkt am Fuß der Klippe zu fischen, es gab dort tückische Untiefen und Strömungen, und bereits Armas Urahnen hatten der Klippe Unheil nachgesagt. Wann immer das Mädchen die Alten nach der Klippe fragte, sah es in verschlossene Gesichter, manche bekreuzigten sich sogar und murmelten hastig ein Gebet.

Arma wuchs zu einer jungen Frau heran, und mit jedem Jahr, das sie in die Höhe schoss, wuchs auch ihre unstillbare Neugier. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, blickte sie zur Klippe hinaus, und abends erwartete sie oft den Vater am Ufer der Bucht und starrte in den Nebel hinauf, bis ihr der Nacken schmerzte. Nicht einer im Dorf konnte sich an den Tag erinnern, an dem ein Sonnenstrahl den dichten Nebel durchdrungen hätte; die meisten vermieden es, die Klippe überhaupt anzusehen, einige erzählten gar von einem Fluch. „Hat denn noch nie jemand versucht, herauszufinden, was dort oben ist?“ fragte das Mädchen die Dorfälteste, ein Mütterchen, von dem hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, dass es eine Hexe sei. Überhaupt war man war im Dorf sehr abergläubisch. Das Mütterchen seufzte schwer. „Mädchen, kannst du nicht von der Klippe lassen? Was machst du dir nur das Herz so schwer?“ Arma blieb stumm, doch ihr Blick war entschlossen. Die Alte seufzte wieder. „Hast du dir jemals die Wände der Klippe angesehen, mein Kind? Sie sind so glatt, niemand würde es jemals schaffen, dort hinaufzuklettern.“ Etwas glomm in den Augen des Mütterchens, das Arma verriet, dass sie der Wahrheit ausweichen wollte … Einer Wahrheit, die dem Mädchen plötzlich lebenswichtig schien. „Aber es hat jemand versucht, nicht wahr?“ Die Alte schlug die Augen nieder, und eine Träne rollte die runzlige Wange hinab. „Einige, mein Kind. Einige.“ „Und?“ Arma wagte nicht zu atmen. Das Mütterchen schüttelte traurig den Kopf. „Keiner der wagemutigen Burschen ist jemals zurückgekehrt.“ „Nicht zurückgekehrt? Dann haben sie es geschafft und sind dort geblieben?“ „Ach Kind!“ Die ledrige Greisenhand strich zitternd über Armas Haar. „Sie wurden auf den Felsen unter der Klippe gefunden, mit zerschmetternden Gliedern und gebrochenen Augen. Keiner hat es je geschafft. Auf dieser Klippe liegt ein Fluch. Schlag sie dir aus dem Kopf, mein Mädchen, ehe sie dich noch ganz vergiftet. Heirate einen braven Fischersmann, werde mit ihm glücklich und denk nicht mehr an die alten Geschichten.“

Doch Arma wollte keinen braven Fischersmann, und ihr Sehnen ließ sie nicht vergessen. Sie stand mit den Gedanken an die Klippe auf und ging mit ihnen schlafen, ihre Hände verrichteten ihr Tagwerk, doch ihre Augen blickten stets leer. „Arma ist krank“, erzählte man im Dorf. „Sie isst nicht. Sie läuft herum wie im Schlaf und will nicht mehr sprechen.“ „Arma ist besessen!“ knurrten andere. „Die Klippe hat ihr den Verstand geraubt!“ Und die Alten bekreuzigten sich wieder und sprachen ein Gebet. Arma jedoch fiel in einen fiebrigen Schlummer, aus dem sie viele Tage nicht erwachen sollte, und sie träumte. Sie träumte …

Das Mädchen erwachte von einem nie gekannten Wohlgeruch. Fort war der strenge Gestank nach Seetang und Fisch, der es sein Leben lang begleitet hatte; nun duftete es betörend nach Blumen verschiedenster Arten, nach Honig, Nektar und Zuckerwerk. Arma schlug die Augen auf und fand sich in einem üppigen Meer aus Blüten in den berauschendsten Farben – sonniges Gelb, schillerndes Purpur, kräftiges Rot und saftiges Grün, außerdem tausend Schattierungen, die sie noch nie gesehen hatte und auch nicht benennen konnte. Sie hörte das Summen geschäftiger Bienen, die ihre Schätze heimwärts trugen, und das fröhliche Zwitschern bunter kleiner Vögel, die schwerelos durch die Luft zu schweben schienen und sich mit prachtvollen Faltern zu einem spielerischen Reigen vereinigten. „So muss das Paradies aussehen“, murmelte Arma überwältigt und sah sich ehrfürchtig um. „Ich bin im Himmel!“ Sie war so versunken in die Betrachtung der Schönheit um sich herum und derartig trunken von all der grenzenlosen Pracht, dass sie erst aufsah, als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel … Und sie erschrak fürchterlich. Leise war ein Reiter auf einem strahlend weißen Pferd heran geritten und sah sie nun über den Hals seines Schimmels aufmerksam an. In seinen kühnsten Träumen hätte sich das Mädchen kein schöneres Wesen vorstellen können als das, das sich nun mit elegantem Schwung über die Flanke des Pferdes herab gleiten ließ. „Willkommen!“ sagte der Fremde und lächelte sie freundlich an. Arma brachte kein Wort heraus, so gefangen war sie von seiner betörenden Erscheinung. Das lange, dunkle Haar des Reiters wurde von einem goldenen Stirnreif aus dem Gesicht gehalten und ließ so den Blick frei für ein Paar leuchtend blauer Augen, die dem Mädchen bis auf den Grund seines Herzens zu sehen schienen. Seine Kleidung wies ihn als Edelmann aus, und in der ledernen Scheide an seiner Hüfte steckte ein riesiges Schwert. „Wo … Wo bin ich?“ flüsterte Arma und setzte sich auf. Der Fremde streckte ihr eine kräftige Hand entgegen und half ihr auf. „Wo du bist?“ fragte er und lachte. „Wo wolltest du denn immer sein?“ Und mit einem Mal verstand sie, und in ihr breitete sich eine Glückseligkeit aus, von der sie nicht gedacht hatte, dass ein Mensch je so empfinden könnte. „Ich bin auf der Klippe im Nebel?“ hauchte sie atemlos. „Nebel?“ Der Reiter blickte sich lächelnd um und blinzelte in die gleißend helle Sonne. „Nun ja, für euch dort unten muss es wohl so aussehen. Wir hier oben kennen kein Dunkel, nur die Schönheit ungetrübten Lichts.“ Das Mädchen bemerkte verlegen, dass es noch immer die Hand des schönen Mannes hielt, und blickte ihn verschämt an. „Wer seid Ihr?“ Ein Schmetterling ließ sich auf seiner Schulter nieder. „Ich bin Prinz Armus.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an und hielt weiter ihre Hand. „Armus?“ Ungläubig sah sie in sein leuchtendes Gesicht. „Ja. Und du bist Arma.“ „Ihr wisst, wer ich bin?“ „Natürlich weiß ich das“, nickte der Prinz bedächtig und führte sie zu seinem Pferd, das nicht weit entfernt friedlich graste. „Du warst einmal Teil von mir.“ Das Mädchen verstand nicht, was er damit sagen wollte, doch es spürte die unendlich berauschende Gewissheit, das gefunden zu haben, wonach es sich sein ganzes Leben so verzweifelt gesehnt hatte. „Armus und Arma.“ sinnierte sie lächelnd. „Das ist wunderschön.“ „Das finde ich auch!“ Armus lächelte zurück und drückte ihre Hand. „Es hat so lange gedauert, wiederzufinden, was zu mir gehört.“ Der Schimmel wieherte ihnen fröhlich entgegen. Ein plötzlicher Gedanke ließ das Mädchen stehen bleiben. „Doch wie bin ich hierher gekommen? Bin ich tot?“ Der Prinz lachte. „Nein, du bist nicht tot. Du bist genauso lebendig wie ich selbst, hab keine Angst. Deine Sehnsucht nach diesem Ort war jedoch so groß, ich konnte sie nicht länger unbeachtet lassen … Und ich habe mich genauso nach dir gesehnt. Ich hatte dich zu lange schon verloren.“ Wieder begriff Arma nicht, was er ihr damit sagen wollte, ihr Herz war zu erfüllt von grenzenloser Freude, Liebe und Glück. Armus half ihr auf das Pferd, das geduldig wartete, ließ sich hinter ihr in den Sattel gleiten und griff nach den Zügeln. „Wirst du ein wenig bei mir bleiben?“ fragte er leise. „Für immer möchte ich bei Euch bleiben!“ jauchzte Arma glückselig und lehnte sich an ihn. Den schmerzlichen Blick seiner strahlend blauen Augen sah sie nicht.
Gemeinsam ritten sie gemächlich über die üppigen Wiesen, vorbei an Wäldern von leuchtendem Grün; sie passierten ein Bächlein mit Wasser, so klar, dass man auf den Grund sehen konnte; und die Luft schien erfüllt vom Klang lieblicher Musik. Sie waren nicht lange geritten, da erhob sich vor ihnen ein trutziger Hügel, und darauf thronte ein wunderschönes Schloss von so blendend reinem Weiß, das es aussah, als wäre es aus Zuckerguss gebaut. Es war voller verspielter Türmchen und Erker und schien Arma mit seinen bunten Wimpeln und Fähnchen willkommen zu heißen. „Ist dies Euer Zuhause?“ fragte sie voll Ehrfurcht und vergaß im selben Augenblick alles, das an die bedrückende Enge der kleinen Fischerhütte daheim erinnerte. „Ja.“ Armus half ihr vom Pferd herunter und blickte ihr liebevoll ins Gesicht. „Wirst auch du dich zuhause fühlen?“ Das Mädchen lächelte strahlend. Am Arm des Prinzen verschwand es in seinem so lang ersehnten Schloss in den Wolken, das auf dem höchsten Punkt der Klippe im Nebel gelegen war, und verbrachte an der Seite des so lange Vermissten eine unbeschwerte Weile voller Seligkeit und Glück.

„Es ist an der Zeit, dich zurückzuschicken, Arma“, sagte der Prinz viele Tage später, und seine Augen waren dunkel von Schmerz. „Nein, nein!“ hauchte das Mädchen verständnislos und blickte den Geliebten ungläubig an. „Wohin soll ich denn gehen, wo ich doch hier zuhause bin, im Schloss in den Wolken, hier bei Euch?“ „Du musst zurück in deine Welt“, erklärte Armus leise, und seine Stimme war vor Trauer schwer. „Es ist an der Zeit, aufzuwachen.“ „Aufzuwachen?“ Arma verstand nicht. „Ich bin doch wacher denn je zuvor!“ „Deine Seele ist wach“, sagte der Prinz, „doch dein Körper schläft. Er schläft schon viele Tage, ich habe einen Bann über dich gelegt. Du träumst, Arma. Das hier ist ein Traum.“ „Ein Traum?“ Das Herz des Mädchens schien zu brechen. „Aber ich kann Euch sehen, kann Euch fühlen! Wie kann das hier ein Traum sein, Armus?“ „Es war die einzige Möglichkeit“, flüsterte der Prinz. „Nur im Traum kann deine Seele reisen.“ „Ich verstehe das nicht!“ schrie Arma und begann, bitterlich zu weinen. „Warum kann ich nicht bei Euch sein, für immer mit Euch vereint?“ Armus seufzte tief und nahm ihre Hand. „Du bist ein Menschenkind, Arma. Das hier oben, das ist eine andere Welt, eine andere Zeit. Nur deine Seele kann hier atmen, kann durch den Nebel gehen. Dein menschlicher Körper kann es nicht. Ich darf deine Seele nicht festhalten, so sehr ich es mir auch wünschen mag. Eines Tages werden wir so vereint sein, wie wir es einmal waren, vor vielen, vielen Ewigkeiten. Doch jetzt musst du zurück in deine Welt.“ Das Mädchen hatte keine Tränen mehr, war nur noch dumpfer Schmerz. „Eines Tages? Wenn ich gestorben bin?“ Der Blick des Prinzen war Antwort genug. „Wie soll ich so weiterleben?“ fragte Arma leise. „Sagt mir, wie? Zu wissen, dass es Euch gibt, dort oben auf der Klippe im Nebel, in Eurem Schloss in den Wolken?“ „Du wirst vergessen“, flüsterte Armus und nahm sie noch einmal fest in seine Arme. „Du wirst vergessen, je hier gewesen zu sein. Wenn du in deiner Welt erwachst, hast du keine Erinnerung.“ „Wie könnte ich jemals vergessen …“ Armas Stimme war nur noch ein Hauch, und sie schmiegte sich an den Geliebten mit aller Verzweiflung, während allmählich der Nebel zu wallen begann.

„Sie ist wach, sie ist wach!“ So viele Menschen hatte die kleine Fischerhütte noch niemals gesehen. Alles drängte sich um Arma, die endlich, nach so vielen Tagen, aus ihrem tiefen Fieberschlaf zu sich kam. Sie schlug die Augen auf und starrte blicklos an die Decke, kein Muskel regte sich in ihrem Gesicht. „Sie ist noch schwach, sie braucht noch Zeit!“ nickten die Umstehenden. „Lassen wir sie richtig gesund werden!“ Und der eine oder andere bekreuzigte sich und murmelte ein hastiges Gebet. Doch Arma war nicht schwach, und Zeit war das Letzte, das sie sich wünschte. Sie konnte es nicht greifen, doch etwas in ihr erinnerte sich an einen flüchtigen Traum, und wenn sie auch ihr Tagwerk wieder aufnahm, sie spürte, ein Teil ihrer selbst war nicht mehr hier, war längst an einem anderen Ort, an dem er ganz zuhause war … War zu dem zurück gekehrt, zu dem er schon immer gehört hatte. Und Arma wusste, was zu tun war. Als das Dorf in tiefem Schlummer lag, schlich sie sich leise, um niemanden zu wecken, aus der kleinen Kate hinaus, ging hinunter zum Wasser und machte das Boot los, das ihrem Vater gehörte. Sie blickte nicht einmal zurück, als sie Richtung Klippe ruderte, und ihr Herz war erfüllt von tiefstem Frieden.

Die Fischer fanden sie am nächsten Morgen. Hingebreitet auf dem Felsen unter der Klippe lag ihr zerschmetterter Körper, die Augen himmelwärts gerichtet, auf den bleichen Lippen ein Lächeln der Glückseligkeit. Und als die Männer den ungläubigen Blick nach oben richteten, stahl sich zum allerersten Mal im Laufe dieser Welt ein Sonnenstrahl durch den einst undurchdringlichen Nebel und fiel auf Armas friedliches Gesicht.

Bildquelle: http://www.google.de/imgres?imgurl=http://th09.deviantart.net/fs71/PRE/i/2012/031/2/1/castle_in_the_clouds_by_mad_computer_user-d4o967e.png&imgrefurl=http://mad-computer-user.deviantart.com/&h=894&w=894&tbnid=pB3FOyPvnAnfwM:&zoom=1&tbnh=100&tbnw=100&usg=__p_yb3rAEOFQtIOBXCM6Q4vyaWS8=&docid=5rO0zPGkp6EFeM&sa=X&ei=PKlsVOrMF4jfO-yvgMAN&ved=0CCUQ9QEwAA&dur=765

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2 Antworten zu Das Schloss in den Wolken

  1. Marina Kaiser schreibt:

    Oh ist DAS ein berührendes Märchen!!!
    Herzliche Seelengrüße zum Advent schickt dir Marina

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